04
Dezember
2023
|
12:13
Europe/Amsterdam

Neusilber – so schön wie anspruchsvoll

Die für A. Lange & Söhne typische Legierung wurde vor 200 Jahren erfunden und fasziniert noch heute.

Die von Ferdinand Adolph Lange 1864 eingeführte Dreiviertelplatine ist ein markantes Merkmal der Zeitmesser von A. Lange & Söhne. Das Bauteil kam bereits in den historischen Taschenuhren der Glashütter Manufaktur zum Einsatz. Teilweise wurde es schon damals aus naturbelassenem Neusilber gefertigt – einer Legierung, die 1823 in Sachsen eingeführt wurde. Auch seit der Neugründung der Manufaktur im Jahr 1990 werden Platinen, Brücken und Kloben aus diesem Material hergestellt. Doch was sind die besonderen Eigenschaften dieses Werkstoffes und wie kam er zu seinem Namen?

Die Gehäuse der Zeitmesser von A. Lange & Söhne gibt es in unterschiedlichen Edelmetallvarianten und seit 2019 auch aus Stahl. Doch im Inneren haben alle Uhren eines gemeinsam: das Gestellmaterial Neusilber. Mit Gestell sind beispielsweise die Werkplatte, die Dreiviertelplatine, der Unruhkloben und der Ankerradkloben gemeint. Es ist ein Ensemble an flächigen und tragenden Bauteilen, die nicht unmittelbar an der Übertragung von Kräften beteiligt sind.

Bereits Ferdinand Adolph Lange verwendete Neusilber ab Mitte des 19. Jahrhunderts für einzelne Taschenuhren, deren Gestellteile bis dahin üblicherweise aus oberflächenveredeltem Messing oder gehärtetem Stahl bestanden. Die damals noch recht neue Legierung – hauptsächlich aus Kupfer, Zink und Nickel – besaß das, was Lange benötigte, um seinen Uhrwerken die gewünschten Eigenschaften zu verleihen. Neusilber kann ebenso wie Messing ausgezeichnet dekoriert werden, ist aber etwas härter sowie allgemein korrosions- und anlaufbeständiger. So kann es ohne Vergoldung eingesetzt werden und bildet mit der Zeit nur eine sehr leichte Patina aus. Zudem ist Neusilber verschleißfester und besitzt eine höhere Festigkeit, Zähigkeit und Steifigkeit.

Neben den positiven Materialeigenschaften gab es mit großer Wahrscheinlichkeit einen weiteren Grund für die Verwendung: der Verkauf von Zeitmessern in die USA. Dort wurde der Import von Edelmetallen, besonders Gold, mit hohen Schutzzöllen belegt, sodass Alternativen für die edlen Gehäuse wie auch für Uhrwerke aus vergoldetem Messing gefunden werden mussten. Die Annahmen erscheinen folgerichtig, weil bereits frühe Lange-Taschenuhren ohne Gehäuse in die USA verkauft wurden. Zudem gerieten die bis dahin üblichen, vergoldeten Messingplatinen unter Verdacht, aus massivem Gold zu bestehen, da man eine Vergoldung nicht von dem massiven Edelmetall unterscheiden konnte. Dies wäre für die weitere Ausfuhr zu riskant gewesen. Neusilber war damals ebenso eine Alternative für echtes Silber, dessen Verfügbarkeit durch den versiegenden Bergbau im Osterzgebirge stetig abnahm.

Der eigentliche Ursprung liegt jedoch in China, von wo im 17. Jahrhundert erstmals Metallwaren aus der Kupfer-Zink-Nickel-Legierung „Packfong“ nach Europa kamen. Da der Import umständlich und kostspielig war und zugleich ein ebenso robustes Material den stetig wachsenden Bedarf an Essbestecken, Geschirr und neuen feinmechanischen Teilen decken sollte, mussten zunächst die Bestandteile der Legierung entschlüsselt werden, was schließlich im 18. Jahrhundert gelang.

Den Durchbruch zur europäischen, industriellen Erzeugung von Neusilber markierte im Jahr 1823 ein Preisausschreiben des „Vereins zur Förderung des Gewerbefleißes“ zur Erfindung eines alternativen Materials, das keine giftigen Verbindungen enthält. Der sächsische Naturwissenschaftler und Arzt Ernst August Geitner (1783 – 1852), der in Leipzig studierte, promovierte und 1810 eine kleine Fabrik zur Herstellung von Farben für die Textilindustrie im Westerzgebirge gründete, gewann den Wettbewerb. Er entwickelte ein Verfahren zur Herstellung einer Legierung mit silberähnlichem Aussehen, die sich besonders wegen ihres Glanzes und ihres Preisvorteils durchsetzen konnte. Geitner bezeichnete das neue Metallgemisch zunächst als „Argentan“, angelehnt an das lateinische Wort für Silber „argentum“. Auch die Bezeichnung „alpacca“ war insbesondere bei Essbestecken üblich. Aufgrund der Entstehungsgeschichte nennt man den heute unter dem Namen Neusilber bekannten Werkstoff auch „German silver“ im Englischen oder „plata alemana“ im Spanischen.

Neusilber überzeugt auch heute durch seine positiven Eigenschaften: Es besitzt eine Festigkeit, die sich hervorragend dazu eignet, die Oberflächen von Hand zu schleifen, zu polieren oder zu gravieren. Die höhere Stabilität bedingt, dass es hervorragend für Gestellteile, insbesondere in Werken äußerst komplizierter Uhren, in denen die Spielräume minimal sind, geeignet ist. Das silberähnliche Aussehen erhält es durch die Beimischung von Zink und vor allem Nickel. Der Zusatz von Nickel trägt außerdem dazu bei, dass das Material im Laufe der Zeit einen warmen, dezent gelbgoldschimmernden Farbton annimmt und keine unschönen Korrosionen entstehen. Neusilber benötigt daher keine galvanische Beschichtung wie beispielsweise eine Vergoldung: Es kann „unbehandelt" oder „naturbelassen“ bleiben. Doch vor allem die mit der Zeit entwickelte Patina verschafft Neusilber ein besonderes Attribut: Es altert in Würde.

Bei der ersten Montage des Uhrwerks muss auch ein erfahrener Uhrmacher die Dreiviertelplatine mehrmals aufsetzen und wieder demontieren, bis jedes Zahnrad des Räderzuges das optimale Höhenspiel besitzt. Da Reinheit beim Umgang mit Neusilber unabdingbar ist, tragen die Uhrmacher Fingerlinge. Und um der Komplexität der Montage und unserem Qualitätsanspruch Rechnung zu tragen, werden die Uhren von A. Lange & Söhne mit größter Sorgfalt zweifach montiert.

Die Neusilberteile kommen besonders im Zusammenspiel mit den weiteren, ebenfalls sorgfältig finissierten Werkteilen zur Geltung. Dazu zählen Stahlteile wie Wellen, Hebel oder Federn, vergoldete Zahnräder und massivgoldene Chatons, rote Rubine und gebläute Schrauben. Dieses Farbspiel und die Materialästhetik können durch den Saphirglasboden jederzeit bewundert werden.

Tino Bobe, Direktor der Manufaktur, erklärt: „Neusilber findet sich in allen unseren mehr als 70 Manufakturkalibern wieder, die seit dem Neubeginn von A. Lange & Söhne entwickelt und gefertigt wurden. Insofern ist die konsequente Verwendung typisch für die Lange’sche Art, Uhren zu fertigen. Es unterstreicht unseren Anspruch, nie den einfachsten Weg zu gehen, sondern immer den, der uns zum besten Ergebnis führt. Zugunsten der Qualität und der Schönheit und Funktionalität unserer Uhrwerke nehmen wir größten handwerklichen Aufwand in Kauf – in Bezug auf Neusilber, aber auch weit darüber hinaus.“

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